KAISERREICH DER PUPPEN
Teil 1
Copyright © 2014 Thomas Feil
Alle Rechte vorbehalten.
Kapitel 2
I.
Shiho Miyazawa stürzte so schnell aus dem Convenience-Store, dass sie mit ihrer Tasche an der Eingangstür hängenblieb, die zwar automatisch, aber nicht schnell genug aufgeschwungen war. Auf dem Gehweg rannte sie beinahe in eine Passantin hinein, die erschrocken auswich. Shiho entschuldigte sich hastig und sah sich um. Diese Verkäuferin hatte den Laden nach hinten hinaus verlassen. Um sie abzufangen, musste sie schnellstens ums Gebäude herum. Die Vorstellung, die dieses Mädchen gerade geliefert hatte, war unglaublich gewesen.
Im Slalom sprintete sie zwischen den Leuten hindurch, die den Fußgängerweg in beiderlei Richtung entlangmarschierten. Wo man auch war in Tokyo, überall war es voll. Wer es eilig hatte, hatte ein Problem, und Shiho hatte es mehr als eilig. Nach einem Hindernislauf, der, wie es ihr vorkam, eine halbe Ewigkeit in Anspruch nahm, erreichte sie eine kleine Straße hinter dem Block. Ausnahmsweise war dort einmal niemand, auch nicht die Verkäuferin. Sie lief in die Straße hinein, und bald tauchte rechterhand der Hinterausgang des Geschäfts auf, das sie gerade verlassen hatte. Von der Tür her waren Klagelaute zu hören, eine Männerstimme. Jemand lamentierte lautstark und gab gleichzeitig Anweisungen. Wahrscheinlich würden binnen kurzem die Polizei und ein Notarztwagen eintreffen.
Von dem Mädchen aber war rein gar nichts zu sehen. Die Straße mündete in eine weitere, und welche Richtung die Flüchtige ab da genommen haben mochte, ließ sich bestenfalls raten. Sie schien sich sehr schnell davongemacht zu haben. Die Umgebung war unübersichtlich, und nachdem sie eine Zeit lang vergebens damit verbracht hatte, aufs Geratewohl herumzulaufen, musste Shiho einsehen, dass es keinen Sinn mehr hatte. Sie gestand es sich nur widerwillig ein, denn sie empfand es als Niederlage. Der Meister hätte mehr von ihr erwarten dürfen. Jetzt blieb ihr nur noch übrig, ihm Bericht zu erstatten.
Sie aktivierte eine Nummer auf ihrem Handy. Eine Sekunde darauf wurde abgenommen.
"Benkyou-nesshin", nannte sie ihr Code-Wort. "Meister, wo finde ich dich jetzt?"
Er saß an einem niedrigen Tisch und wirkte bester Laune.
"Shiho, was gibt es? Wie ich hörte, warst du wieder die Beste beim nationalen Schulvergleichstest."
Sie nickte verlegen. "Das ist nichts Besonderes."
"Gewiss. Nicht für dich."
"Das ist es aber nicht, weswegen ich mit dir sprechen wollte, Meister."
Sie erzählte ihm, was sie gesehen hatte.
"Sie sah so klein und schwach aus. Aber der Zorn, der von ihr ausging, war grausam. Und diese Bewegung, mit der sie die Frau zu Fall gebracht hat, war so versiert und schnell. Wir sind auf so etwas trainiert – aber ein normales Mädchen wie sie!"
"Nicht gar so normal, wie ich deiner Schilderung entnehme. Die alte Frau und der Geschäftsführer, die waren nicht weiter verletzt?"
"Nein, ich denke nicht. Dooru Ninja hat mich vieles gelehrt, und trotzdem weiß ich wirklich nicht zu erklären, wie sie das gemacht hat."
"Das will in deinem Fall schon einiges heißen. Doch den Lehren der Alten mangelt es nicht an Wundersamem, und es gibt vererbtes Wissen, das weitergereicht wird, ohne gelehrt zu werden."
Er schwieg, schien Erinnerungen abzurufen, und als er bemerkte, dass sie ihn ansah wie ein Kind seinen Lehrer am ersten Schultag, lachte er.
"Nun, so genau weiß ich es auch nicht. Und man hört viel, wenn der Tag lang ist."
"Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es war wirklich perfekt."
Er stand auf, und sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Sie und die anderen hatten sich oft gefragt, wie alt er wohl war. Er mochte dreißig sein, oder auch vierzig. Älter gar? Gesagt hatte er es ihnen nie. Auch nicht, warum er an der linken Hand stets einen schwarzen Handschuh trug. Er war nicht wie die ihren, nicht aus Japan. In Nordeuropa gab es Menschen seiner Art, hochgewachsen und hellhäutig, mit hellen Augen. Irgendwie schien er alt und jung zugleich. Sie wusste es einfach nicht.
"Und du hattest eine eindeutige Empfindung bei diesem Mädchen? Du bist dir sicher?"
"Ja, ganz eindeutig. Mir ist das selbst nicht ganz geheuer."
"Was?"
"Dass ich so etwas wahrnehme, ohne dass ich es mir erklären kann."
"Du hättest lieber ein Messgerät dafür, nicht wahr? Aber warum suchst du nach einer Erklärung, wenn sich dir etwas als zweifelsfrei offenbart?"
Gern hätte sie ihm eine Antwort darauf gegeben, eine, die nicht zu widerlegen gewesen wäre, aber sie konnte es nicht, und so schmollte sie ein wenig. Er übersah es.
"Es ist nicht gut, dass sie sich so auffällig verhalten hat", raunte er, mehr zu sich selbst. "Man wird sie suchen."
Er ging zu einem Fenster, sah hinaus in den Garten, der dahinter lag, und schien eine Weile in Gedanken versunken.
"Wir müssen sie finden. Und dabei werden auch deine Fähigkeiten von allergrößtem Wert sein. Wie weit bist du bisher gekommen?"
Ihre Wangen wurden röter, als sie antwortete: "Ich habe einen Weg gefunden, ins Computernetzwerk der Polizei zu kommen."
Diese besondere Aufgabe hatte er ihr erteilt und keiner anderen. Sie war das, was ihr Code-Wort besagte: lernbegierig ohne Grenzen. Sie sog Wissen auf wie ein Mahlstrom und wusste es mit messerscharfem Verstand zu gebrauchen. Bereits als Kind hatte sie ihre Eltern verloren, und so war sie in einem Heim aufgewachsen. Ihre Begabung wollte sich Ausdruck verschaffen, doch dem Heimleiter, einem kleinlichen Sadisten, der weder Eigenart noch Streben duldete, war es ein Vergnügen, alles unter sich zu ersticken, was im Begriff war zu erblühen. Als der Meister und die Assistentin, die Frau an seiner Seite, Shiho fanden, war sie gebrochen, doch gelang es ihnen, sie ihrer Misere zu entreißen. Welchen Weg sie fortan zu gehen hatte, stand außer Frage: Ihr war bestimmt, ein Mitglied des Dooru-Zirkels zu werden, wo sie alle Gelegenheit erhielt, ihre enormen Talente zu entfalten, und sie wurde, wie jede der Dooru, in einer Kampfkunst geschult, die als seit Jahrhunderten verloren galt, als Legende. Nachdem ihre Ausbildung beendet war und sie ihre Prüfung bestanden hatte, verlieh er ihr den Titel, der ihr entsprach: Dooru Schola.
Die Dooru. Die 4A. Er war ihr Meister.
"Du bist ein Wunderkind, Shiho. Dein Intellekt reicht für ein Dutzend andere."
"So ist es ganz bestimmt nicht", sagte sie verlegen. "Doch wird die Polizei sicher nach ihr fahnden, und wir können uns die entsprechenden Informationen zunutze machen."
"Schaden kann es nicht, doch die Polizei steht ebenso wie wir vor der Frage: Wo beginnen, in dieser Stadt? Sofern das Mädchen sich nicht in irgendeinen der hintersten Winkel des Landes abgesetzt hat, besteht allein im Metropolgroßraum jede Chance, innerhalb kürzester Zeit zwischen all diesen Abermillionen von Menschen unterzutauchen. Wir wissen ja aus den Nachrichten gut genug, wie oft Leute verschwinden und erst nach einer Ewigkeit durch irgendeinen Zufall aufgespürt werden. Nein, ich denke, für den Anfang werden wir uns unkonventionellerer Methoden bedienen müssen. Dies ist ein Fall für Dooru Para."
Schola verzog das Gesicht.
"Entschuldige, Meister, könnten wir nicht ebenso gut Lotto spielen?"
"Die letzten Lottozahlen, wo du es erwähnst, hat Para korrekt vorhergesagt. Was, wie auch schon früher, der finanziellen Situation unseres Zirkels ungemein zugute kommt."
"Ich weiß nicht ..."
Sie schmollte abermals, und er berührte ganz leicht ihr Gesicht.
"Du hast alles sehr gut gemacht, Shiho. Geh jetzt zur Assistentin und berichte ihr genau das, was du auch mir gesagt hast. Ich habe gewisse Vermutungen, was dieses Mädchen betrifft, und ich nehme an, die Assistentin wird mich darin bestätigen. Sollte dem so sein, werde ich dich und die anderen noch heute zusammenrufen."
Dooru Schola verneigte sich und brach auf. Er hatte ihr nicht den kleinsten Vorwurf gemacht, und sie hatte nicht vor, jemals weniger zu geben als alles, was ihr irgend möglich war.
II.
Der Boden des Schiffes schaukelte. Die Beleuchtung unter Deck war karg und trüb, während die Männer versuchten, die Kiste aufzubekommen. "Kiste" war kaum das richtige Wort, denn der Behälter ähnelte mehr einem Sarkophag, einem Marmorblock, etwa drei Meter lang und nicht besonders hoch. Sein Deckel löste sich einfach nicht, was sie auch damit anstellten. Zuletzt wussten sie nicht mehr weiter. Doch es war nicht allein dieser Deckel. Ihnen war unheimlich zumute, in diesem finsteren Frachtraum, der auf und ab und hin und her schwankte. Und an diesem Sarg, oder was das auch sein mochte, war irgendetwas nicht normal.
Auch Makiuchi fühlte sich unwohl. Er war mit den Männern von der Hafenbehörde gekommen, denn seine Abteilung war zuständig für Fälle wie diesen. Undeklarierte Fracht zweifelhaften Inhaltes und unklarer Herkunft. Das Schiff kam aus Europa, doch das allein gab keinen Aufschluss darüber, welchen Ursprung der Behälter hatte, geschweige denn, was sich darin befand. In der wenig anheimelnden Atmosphäre jenes Laderaums mit seiner schummrigen Beleuchtung wirkte er wie nicht am rechten Ort, wie etwas auf dilettantische Art in ein Bild Hineinkopiertes, das sich mit seiner Umgebung nicht verband. Und was wie ein Deckel aussah, schien mit dem Rest des Quaders verschweißt zu sein.
Nachdem die Männer lange Zeit erfolglos alles Mögliche ausprobiert hatten, um den Deckel zu lösen, gaben sie auf, traten ein paar Schritte weg und beratschlagten sich. Was, wenn der Behälter etwas Gefährliches barg? Weitere Instrumente mussten her. Oder sollte man den Behälter erst vom Schiff bringen, irgendwohin, wo man ihn vielleicht besser untersuchen konnte? Dann brauchten sie Unterstützung, denn allein konnten sie ihn nicht von der Stelle bewegen, selbst mit fünf Mann nicht. Sie hatten es versucht.
Makiuchi folgte der Diskussion kaum noch. War es nicht so, dass dieser Frachtraum in eine kokonartige Stille gehüllt war, die dem abgeschalteten Ton eines Fernsehers glich? Warum vernahm man auch kein Geräusch von außen, vom oberen Ende der Treppe her, wo das Schott war, durch das sie hineingekommen waren und welches offen stand? Gewiss, es war spät abends, aber irgendetwas hörte man doch immer. Die Stadt ruhte niemals ganz.
Seine Gedanken brachen ab, als Bewegung in die anderen kam und sie wieder zum Behälter hinübergingen. Er hatte gar nicht mitbekommen, was sie zuletzt besprochen hatten. Es spielte auch keine Rolle mehr, denn etwas zischte, so heftig und schneidend, dass sie alle auf einmal zusammenzuckten. Der Deckel hatte sich ganz plötzlich von allein bewegt, und mit Hochdruck schoss irgendein Gas aus dem Behälter. Die anderen Männer, die näher standen, fielen augenblicklich. Makiuchi wich zurück, doch er war nicht schnell genug, atmete etwas ein, das nach nichts roch aber irgendwie stach, taumelte und ging zu Boden. Er wehrte sich und versuchte, sein schwindendes Bewusstsein zu halten. Aus dem Behälter, dessen Umrisse immer unschärfer wurden, erhob sich eine Hand. Nein, keine Hand, eine Klaue mit drei Fingern! Ihr Anblick allein hätte gereicht, ihm die Besinnung zu nehmen. Nun verschwamm alles vor seinen Augen, und es wurde dunkel. Doch obwohl seine Sinne ihm den Dienst versagten, war er sicher, dass jemand in den Frachtraum kam, und er hörte noch eine Stimme, in seinem Kopf: "Schweigt, ihr alle! Schweigt!"
Als Makuchi wieder zu sich kam, hockte einer der Männer neben ihm, damit beschäftigt, ihn wachzurütteln. Er war als letzter aufgewacht. Der Behälter, dessen Deckel jetzt schräg am unteren Ende auflag, war leer. Es sah auch nicht so aus, als wäre jemals etwas darin gewesen. Das Gas schien sich verflüchtigt zu haben, gleichwohl blieb allen noch geraume Zeit schwindlig, und sie fühlten eine beklemmende Angst, die sie sich nicht allein mit dem Schrecken des unerwarteten Ereignisses erklären konnten.
Eine hitzige Diskussion entspann sich, wobei jeder vehement seine eigenen Vermutungen darüber vertrat, was geschehen sein mochte, obwohl niemand wirklich etwas beobachtet hatte. Als Makiuchi erwähnte, was er als Einziger von ihnen gesehen zu haben meinte, traf er bei den anderen auf seltsam aggressive Ablehnung. Einer der Männer nannte ihn einen Lügner und stieß ihn sogar vor die Brust. Es wäre vielleicht zu einer Schlägerei gekommen, hätte nicht einer der anderen Männer aus heiterem Himmel angefangen, dermaßen hysterisch zu lachen, dass man ihn erst einmal beruhigen musste. "Was sollen wir nur tun?", klagte er zuletzt weinerlich. "Wir müssen schweigen, habt ihr das etwa nicht gehört?" Alle Blicke richteten sich auf Makiuchi, der selbst über die Antwort erschrak, die er gerade gegeben hatte.
Makiuchi wurde mit einem Schlag wach. Er war nicht in jenem Frachtraum. Er lag in seinem Bett, und es war mitten in der Nacht. Während er sich das Gesicht rieb, entsann er sich des beklemmenden Traums. Ein Traum, und doch war es keiner. Es war eine Erinnerung. Das Schiff damals. Es war schon an die zehn Jahre her, als er zu der Abteilung gehört hatte, die mit den Hafenbehörden zusammenarbeitete. Jene Begebenheit hatte sich in die Reihe derjenigen Erlebnisse in seinem Leben eingereiht, welche wie die Spitzen eines Gebirges aus einem Wolkenteppich herausragten, der das meiste an Tälern und Gipfeln, welche die Landschaft seines Lebenwegs bildeten, als vergessenswürdiges Einerlei unter sich verdeckte. Er hatte sie nie vergessen, diese Begebenheit. Weder wollte er es, noch konnte er es, denn sie verstörte ihn heute noch so sehr wie damals. Er war sich sicher, diese Klaue gesehen zu haben, auch wenn sein Verstand sie lieber als Hirngespinst abgetan hätte. Gleiches galt für jene sanfte Stimme, die zu hören er eigentlich bereits nicht mehr imstande gewesen sein konnte, und deren Klang seinen Ursprung in ihm selbst gehabt haben mochte. Niemals zuvor und auch nicht mehr seitdem hatte er hinnehmen müssen, dass die Form der Realität, deren Umrisse er immer als stabil und verlässlich erfahren hatte, einfach so zerbrach.
Ob es den anderen Männern wie ihm ergangen war, hatte er nicht herausfinden können. Ihr Versuch, den Vorfall übereinstimmend zu beurteilen, scheiterte an der Stimmung gegenseitigen Misstrauens und aufkeimenden Wahnsinns, und worüber sie am Ende übereinkamen, hatte Makiuchi seither als geheimen Schandfleck seiner beruflichen Bilanz empfunden. Sie alle unterzeichneten einen Bericht, demzufolge sie nichts als einen antiquiert aussehenden, leeren Behälter vorgefunden hatten. Alles weitere verschwiegen sie. Es erschien einigermaßen sicher. Der Kapitän des Schiffs und andere Besatzungsmitglieder, die befragt worden waren, hatten behauptet, die Frachtpapiere seien bei Beginn der Fahrt vollständig und in Ordnung gewesen und müssten später abhandengekommen sein. Das Objekt selbst, jener Behälter, sei wahrscheinlich ein altes Sammlerstück.
Die Entscheidung, die tatsächlichen Ereignisse zu verschweigen, wurde hastig und unter den verstörenden Nachwirkungen des Vorfalls getroffen. Sie konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Es wäre zu beschämend gewesen. Makiuchi konnte nicht umhin, sein eigenes Verhalten an dem des Streifenpolizisten Suzuki zu messen, der sich immerhin getraut hatte, seine etwas fantastisch anmutenden Beobachtungen preiszugeben.
Der Behälter wurde schließlich als undeklariertes "Kunstobjekt" unbekannten Besitzers registriert und in ein dafür vorgesehenes Verwahrungslager geschafft. Ein paar Monate später hatte Makiuchi dort noch einmal nachgefragt, ob vielleicht jemand einen Anspruch angemeldet habe, doch war dies nicht der Fall gewesen. Was danach mit dem Behälter passiert sein mochte, wusste er nicht. Aber die Erinnerungen an das, was damals passiert war, kehrten in letzter Zeit häufiger wieder, und aus einem Grund, den Makiuchi nicht durchschaute, hatte das Auftauchen der mysteriösen "4A" irgendetwas damit zu tun.
Die 4A. Wochen vergingen, ohne dass sich wieder etwas tat. Makiuchi hatte die verhafteten Drogendealer nochmals verhört. Es erschien glaubhaft, dass sie selbst nicht wussten, wer sie überwältigt hatte. Offenbar waren sie in einen Hinterhalt gelockt und sehr schnell ausgeschaltet worden. Weitere Anhaltspunkte fehlten. Den Präsidenten stellte das zwar nicht zufrieden, aber mehr konnte Makiuchi ihm einfach nicht bieten, noch jedenfalls nicht.
Schließlich erhielten sie doch wieder einen Hinweis, und noch vor Morgengrauen eilte ein Polizeitrupp in den Shinjuku-Gyoen, einen großen Park im Zentrum Tokyos. Normalerweise war dieser über Nacht gesperrt und menschenleer, doch während die Umgebung gesichert wurde, fasste man einen jungen Mann, der dabei war, die Anlage heimlich über eine der Parkmauern zu verlassen. Überdies lagen auf einer Rasenfläche inmitten des Areals etwa zwei Dutzend Männer beieinander, geschnürt wie Pakete und ordentlich arrangiert, die meisten von ihnen bewusstlos, manche leicht verletzt. Daneben stellte man einen kleinen Aktenkoffer und Handfeuerwaffen sicher.
Der junge Mann, der zu entwischen versucht hatte, gab sich als Video-Künstler aus. Tatsächlich hatte er eine Kamera bei sich und behauptete, sich im Park versteckt gehalten zu haben, nachdem dieser gegen Abend geschlossen worden war, um in der Dunkelheit außergewöhnliche Aufnahmen der Parkanlagen zu machen. Dabei war er unverhofft Zeuge eines seltsamen Ereignisses geworden und hatte die Gelegenheit ergriffen, es aus einiger Entfernung unbemerkt aufzunehmen.
Der Polizeipräsident zitierte noch am selben Morgen Makiuchi und zwei weitere Mitglieder seines Stabes zu sich, um gemeinsam das konfiszierte Video anzusehen. Dieses war etwa 10 Minuten lang. Da alles bei Nacht aufgenommen worden war, war manches schwer zu erkennen, doch was sich erkennen ließ, schien für einen Actionfilm bestimmt zu sein. Mitten im Park hatte ein Kampf stattgefunden. Die Männer, die man vorgefunden hatte, lieferten sich ein heftiges Gefecht mit einer anderen Partei, deren Mitglieder im Ninja-Stil vermummt waren. Es waren nur halb so viele wie die anderen, von Statur deutlich kleiner als ihre Gegner, diesen aber kämpferisch hochüberlegen, obwohl sie selbst keine Schusswaffen benutzten. Nur wenige Male blitzten Mündungsfeuer auf, und den Vermummten gelang es bemerkenswert schnell, ihre Gegner zu überwinden. Außerdem schien sich etwas abseits vom Geschehen noch jemand aufzuhalten. Nachdem man den entsprechenden Ausschnitt des Bildes vergrößert hatte, ließ sich eine hochgewachsene Gestalt erkennen, verhüllt in einem dunklen Mantel mit Kapuze.
"Wer auch immer das ist, er dürfte gut und gern zwei Meter groß sein", raunte Koji Okudera, der eine von Makiuchis Kollegen.
"Geht jedenfalls in die Richtung", bestätigte Makiuchi und schaute den Präsidenten an.
Der starrte auf das eingefrorene Bild und reagierte nicht weiter.
"Was wissen wir jetzt?", fragte er schließlich.
"Die sogenannten 4A", sagte Makiuchi, "scheinen also eine recht effektive Kampfeinheit zu sein, wie wir gesehen haben. Und diese andere Person ist möglicherweise ihr Anführer. Sie haben uns neben ihren Gegnern auch Datenträger mit Beweismaterial geliefert. Wie es bisher aussieht, enthalten diese alles, was wir brauchen, um die Festgenommenen offiziell zu überführen. Wie es übrigens aussieht, gehören sie zwei unterschiedlichen Parteien an. Offenbar fand im Park eine Übergabe statt, in welche die 4A hineinplatzten. Ich hasse es, das zuzugeben, Herr Präsident, aber man hat uns ein beträchtliches und schwieriges Stück Arbeit aus den Händen genommen. Und ich muss einräumen, dass diese Arbeit brillant geleistet wurde."
"Aber nicht von uns!!", schnappte der Präsident barsch.
Er war für sein Temperament bekannt, und so übten sich die anderen eine Weile lang in reserviertem Schweigen. Schließlich wagte Kenji Nakata, Makiuchis anderer Kollege, eine vorsichtige Bemerkung.
"Etwas anderes ist mir noch aufgefallen. Vielleicht hatte nur ich diesen Eindruck, aber mir kam es so vor, als wären diese 4A ... Frauen."
Der Präsident gaffte ihn verständnislos an, Makiuchi aber nickte.
"Richtig, das hat dieser Filmer auch gesagt. Er meinte, er habe ihre Stimmen hören können. Dass es sich um eine rein weibliche Kampftruppe handelt, erscheint fast noch bemerkenswerter als alles andere."
"Und diese Gestalt da am Rand?", fragte der Präsident.
"Dem Filmer war sonst niemand aufgefallen. Vielleicht war er zu sehr mit dem Aufnehmen beschäftigt."
"Wo ist der Kerl jetzt?"
"Er hat letztlich nur eine Ordnungswidrigkeit begangen. Wir konnten ihn deswegen nicht länger festhalten. Den Chip seiner Kamera haben wir natürlich einbehalten."
Der Präsident blickte finster drein.
"Was haben wir sonst noch?"
"Bei den Verletzungen, welche einige der Festgenommenen davongetragen haben, handelt es sich teilweise um Messer- oder Schwertwunden. Ansonsten scheinen die 4A waffenlos gekämpft zu haben."
"Und die sind selbst ganz ungeschoren davongekommen? Die anderen hatten immerhin Schusswaffen!"
"Weder das Video noch die Spurensicherung geben darüber Aufschluss. Allerdings liegt uns wieder ein Schreiben vor, nur diesmal mit anderem Wortlaut. Es war, zusammen mit dem Beweismaterial, in dem Aktenkoffer hier."
Der Koffer lag auf dem Tisch. Makiuchi entnahm ihm ein Blatt Papier, von der gleichen Art wie bei den früheren Schreiben, und reichte es seinem Chef.
Der Präsident las erst leise, dann, wütend und mit rotem Gesicht, laut: "Wir haben für euch die schmutzige Arbeit erledigt. Nun lasst diesem Abschaum seine Strafe angedeihen! 4A. – Jetzt gibt man uns also schon Anweisungen!"
Er warf das Blatt von sich auf den Tisch.
"Die Existenz einer paramilitärischen Einheit in Tokyo oder überhaupt innerhalb der Grenzen dieses Landes ist inakzeptabel. Verstehen Sie das? Es ist eine Beleidigung! Ich will, dass Sie mir jetzt gut zuhören, nur damit keine Missverständnisse aufkommen. Sie drei, wie Sie vor mir stehen, werden ein Team bilden und ein Sonderkommando aufbauen, unter Ihrer Leitung, Makiuchi. Sie werden sich ab jetzt mit nur einer einzigen Aufgabe befassen, nämlich diese Bande zu identifizieren und auszuheben. Und Sie werden, und zwar unbedingt, Schweigen über diese Vorfälle bewahren, insbesondere diesen letzten. Und auch über ihren besonderen Auftrag."
Seine Zuhörer nickten verhalten.
"Die Auswahl geeigneter Leute für die Einheit überlasse ich Ihnen, Makiuchi, mit einer Ausnahme, und das wird Iwamura sein. Ich will, dass er dabei ist."
Die drei warfen einander flüchtige Blicke zu. Daisuke Iwamura war, was man als "Aiken" bezeichnete: der Schoßhund des Präsidenten. Wesentlich jünger als Makiuchi und die beiden anderen, Jahrgangsbester der Polizeiakademie, war er die Karriereleiter mit besessenem Ehrgeiz und rasantem Tempo emporgeeilt, und er pflegte durch Selbstüberschätzung auszugleichen, was ihm an Erfahrung noch fehlte.
"Ich erwarte Erfolge", schloss der Präsident, "und zwar zügig. Wir lassen uns so etwas nicht bieten!"
Bevor die drei das Büro verließen, packte Makiuchi das sichergestellte Material ein. Sein Blick fiel dabei noch einmal auf das Standbild mit der unbekannten Gestalt. Ein Gefühl beschlich ihn, eine vage und doch sehr bestimmte Ahnung, die genauer zu fassen er jedoch nicht vermochte.
Noch nicht.
III.
Es war Nacht. Der Sky Tree, wie man den stählernen Pfeiler nannte, der höchste Punkt Tokyos, thronte über dem Häusermeer der Stadt. Ganz oben auf seiner Spitze, 634 Meter waren es, an diesem unwahrscheinlichsten aller Punkte stand sie und überblickte den Ozean aus Lichtern, der sich in der Tiefe um sie herum ausbreitete: Dooru Para. Ihre Füße steckten in Spezialstiefeln, die sie mit dem Metall gleichsam verschweißten. Sie war allein hinaufgeklettert, von niemandem bemerkt. Hier, von dieser Stelle aus, wollte sie ihre Empfindungen nach der einen ausrichten, die zu suchen ihnen ihr Meister befohlen hatte.
Sie schloss die Augen und fühlte den vibrierenden Organismus der Stadt. Stimmen, Gedanken, Träume. Den Puls von Maschinen, die Frequenzen von Prozessoren, die Spannungen von Leitungen. Ein Mosaik, das nicht aufhörte sich zu drehen und zu verschieben. Nichts blieb still, alles zerfiel, formierte sich neu, löste sich wieder auf. Ein Gewebe aus Energien, elektrischen Energien, physiologischen, spirituellen. Dooru Para bedeuteten diese Unterscheidungen nichts – am Ende war alles Eins, nur unendlich diversifiziert. In all dem suchte sie nach einer aurischen Signatur. Para war die Einzige der Dooru, die so etwas konnte.
Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, das manchmal erspürte, was anderen verschlossen blieb, hatte man sie verspottet. Dafür, dass sie Echos aus der Zukunft vernahm oder Dinge sah, die dem Auge verborgen waren. Und je älter sie wurde, desto mehr vernahm und sah sie. Aber was für sie ein wundervolles Spiel alles Lebendigen war, ein Zauber, galt den Menschen um sie herum als unnatürlich. Eine wie sie wollte man nicht dulden. Ihre Eltern brachten sie zu Experten, aber niemand wusste zu sagen, was es mit ihr auf sich hatte. Als schließlich die eigene Mutter ihr nahelegte, sich das Leben zu nehmen, verstand sie, dass es in der kleinen Welt, die sie bisher kannte, für sie keinen Platz gab. Sie ging fort, in die riesige Stadt, wo sie die Einsiedelei unter Millionen suchte, sich im Wirbel der Eindrücke berauschte und darin beinahe den Verstand verlor, denn sie fand keinen Weg, ihren Geist gegen das gnadenlose, unaufhörliche Tosen abzuschirmen. Als sie sich am Punkt des Zerreißens glaubte, spürte sie die Anwesenheit einer tiefklaren Präsenz, die sich nach ihr ausstreckte, um ihr eine rettende Hand zu reichen. Es war die Assistentin, die Frau an der Seite ihres späteren Meisters. Von ihr lernte sie, sich zu schützen, ihre Gabe zu vollenden und zu beherrschen. Die Assistentin brachte sie vor den Meister. Der bot ihr eine Heimat in der Schwesternschaft der Dooru.
Nun stand sie da, in eisiger Höhe, und öffnete sich. Tokyo war ein lebendes Wesen, ein riesiger Knoten feinster Fäden, in dem sie einer winzigen Spur nachging. Sie hatte die Signatur des Mädchens erstmals in der Erinnerung Dooru Scholas identifiziert, sie war in den Laden gegangen, um der Kollegin des Mädchens in die Augen zu sehen, hatte ihre Sorge um die Entflohene gefühlt und so deren Identität noch schärfer wahrgenommen, so genau, dass sie glaubte, dieses einen Wasserkristalls im wogenden Meer habhaft werden zu können. Sie ließ sich treiben. Nach Westen schien es zu gehen, wo die Ausdehnung der Stadt am weitesten war. Flüchtig streifte sie die vertrauten Signaturen derer, die ihr nahestanden. Jede hatte ihre unverwechselbare Gestalt. Das sanfte Gleißen der Assistentin, der eigenartig doppelte, verschlungene Puls ihres Meisters. Sie fand, wonach sie suchte, und ließ den Eindruck auf sich wirken. Er war schwach, aber sie war sich sicher.
So unbemerkt, wie sie hinaufgekommen war, kletterte sie den langen Weg hinunter. Es war Zeit, den anderen das Zeichen zum Start zu geben. Dooru Ninja, die Erste des Zirkels, beantwortete ihren Anruf unverzüglich.
"Senrigan", nannte Para ihr Codewort. "Sie müsste in der Gegend von Kichijoji sein. Lasst uns dort anfangen."
"Verstanden", gab Ninja zurück.
"Ich glaube, sie träumt gerade."
"Wovon?"
"Von unserem Meister."
"So?"
"So."
Durchgefroren und müde, aber zufrieden, machte Para sich auf den Heimweg.