KAISERREICH DER PUPPEN
Teil 1
Copyright © 2014 Thomas Feil
Alle Rechte vorbehalten.
Kapitel 3
I.
"Ausgezeichnet, Para", lobte der Meister. "So wissen wir schon einmal, wo wir anfangen können. War es interessant da ganz oben?"
"Hmm ...", meinte sie versonnen, ihr Blick leicht glasig. "Eher kalt."
"Denke ich mir. Zumal mitten in der Nacht und im Januar. Aber abgesehen von demjenigen vielleicht, der dort auf der Spitze die letzte Schraube gedreht hat, dürftest du die einzige Person auf der Welt sein, die das Privileg dieses Ausblicks genossen hat."
"Das Mädchen hat eine sehr präzise Signatur. Sie war relativ einfach zu entdecken."
"Bemerkenswert. Meinst du, sie passt zu uns? Ich meine: zu euch zwölfen?"
"Ich weiß nicht. Signaturen passen weder, noch passen sie nicht."
"Verstehe", schmunzelte er, dann bemerkte er ihren abermals entgleitenden Blick und sah sich um.
"Schwebt da etwa wieder ein Geist hinter mir?"
"Kein Geist. Nur eine Form."
"Ach, so wie sonst manchmal auch? Leuchtet sie wieder hübsch?"
"Nein, gar nicht. Sie ist so schwarz, dass sie alles in sich aufsaugt."
"Mal leuchten sie, mal sind sie schwarz. Ich sage immer: Auf die gesunde Mischung kommt es an."
"Jetzt ist sie weg."
"Ein Glück! So habe ich nichts mehr zu fürchten."
"Du sicher nicht, Meister."
"Wie schön. Als Nächstes will ich einmal sehen, was Schola herausgefunden hat. Die meisten anderen sind übrigens schon ausgeschwärmt. Du wirst dich an der Suche in Kichijoji beteiligen. Melde dich bei Dooru Ninja."
Para verneigte sich.
"Bis dann, Meister", sagte sie und machte sich auf den Weg.
"Tempel" nannten sie die geheime Zentrale des Dooru-Zirkels. Dort, in einem kleinen Zimmer, saß Dooru Schola am Computer und spionierte das Netzwerk der Polizei aus. Ihr Meister wollte wissen, ob dort etwas bekannt war über das Mädchen, das sie suchten, und auch, wie man sich zu den Aktivitäten des Dooru-Zirkels stellte. "Wir haben den Hütern des Gesetzes unsere Visitenkarte oft genug hinterlassen", hatte er kommentiert. "Ich frage mich nun, wie man sie gelesen hat."
"Hier, Meister", sagte Schola, als er sich zu ihr gesellte. "Das hier ist die Akte zu dem Vorfall im Convenience-Store. Bericht, Zeugenaussagen. Das Mädchen steht auf der Suchliste, allerdings keine Großfahndung, dafür war ihr Vergehen nicht schlimm genug. Da sind auch die Adresse und der Name des Mädchens. Leider kein Foto."
"Das bringt uns auch nicht weiter", meinte er. "Sie wird kaum zu Hause sitzen, und der Name ist belanglos, er stimmt sowieso nicht. Wir verlassen uns besser auf unsere eigenen Mittel."
"Glaubst du, dass Para richtig liegt?", fragte Schola.
"Warum nicht?"
"Ich weiß nicht. Ich bewundere sie aufrichtig. Allein, auf den Sky Tree zu steigen! Aber weshalb musste sie überhaupt dort hinauf? Welchen Unterschied soll es machen, von wo aus sie ihre, wie soll ich es nennen, parapsychologischen Fähigkeiten einsetzt?"
"Dieses Bauwerk ist eine riesige Antenne, und seine Spitze ist ein privilegierter Punkt. Para kann sich das offenbar zunutze machen."
"Aber sie sagt zum Beispiel, je näher sie einer Signatur kommt, desto schlechter kann sie sie lokalisieren. Ich finde das eigentlich nicht besonders logisch."
"Na, Shiho, sei nicht so kritisch! Ich war auch manchmal skeptisch, aber als Para mir demonstriert hat, dass sie sogar das Fernsehprogramm ohne technische Hilfsmittel empfangen kann, hat mich das doch sehr von ihren Fähigkeiten überzeugt. Sie scheint überaus flexibel zu sein."
"Und dann behauptet sie immer steif und fest, sie glaube nur, was sie sehe!"
"Die Frage ist wohl: Was eigentlich sieht Para? Geh nicht so sehr mit ihr ins Gericht! Ihre Begabung ist so immens und so einzigartig, wie die deine es ist. Ihr seht die Welt mit ganz verschiedenen Augen, aber es ist dieselbe Welt. Para wurde ob ihrer Besonderheit gemieden, beschimpft und verlacht. Deine Talente hingegen würden dir die höchsten Auszeichnungen einbringen, wenn du eine Karriere im regulären Leben verfolgen würdest. Doch gewiss sind eure Begabungen im Angesichte der Schöpfung gleichwertig. Kurzum: Ich bin sicher, dass sie etwas gefunden hat."
Schola nahm sein Urteil als gegeben hin und navigierte am Bildschirm weiter. Sie jedenfalls war nicht überzeugt.
"Ich zeige dir mal, was die Polizei über uns hat", sagte sie. "Die Fälle, in denen wir uns zu erkennen gegeben haben, sind auf die übliche Weise zu Protokoll genommen und aktenkundig gemacht worden."
"Auch die Sache mit den zwei Streifenpolizisten im Hafenbezirk?"
"Ja."
"Und unser Streich im Shinjuku-Gyoen?"
"Offiziell ist, dass man die Lieferung samt Nachricht und Beweismaterial vorgefunden hat. Sonst nichts. Natürlich befasst sich jetzt die Staatsanwaltschaft mit dem Fall."
"Und das Video?"
"Nichts darüber. Interessant, nicht?"
"Allerdings! Wenn sie das vertuschen, dann nehme ich an, dass irgendetwas gegen uns läuft, nicht so ganz offiziell freilich."
"Das denke ich auch, aber da ist bis jetzt nichts zu finden. Allerdings gibt es bestimmte Geheimstufen, hinter die ich bisher noch nicht habe vordringen können. Ich arbeite daran."
"Dafür wird später noch Zeit sein. Ich danke dir, Shiho. Deine Aufgabe hier ist einstweilen beendet. Du wirst dich den anderen bei der Suche anschließen. Melde dich bei Dooru Ninja."
Dooru Schola nickte, und der Meister ging.
II.
Der Beginn der Suche erwies sich, wie erwartet, als schwierig. Der Stadtteil Kichijoji, in dem Dooru Para die Gesuchte wähnte, im Westen Tokyos, war ein wimmelnder Anziehungspunkt für Jung und Alt, mit langen, überdachten Einkaufsstraßen und einem feingezogenen Netzwerk schmaler Gässchen. Und auch wenn dies ein Anfang war, um eine einzige Person zwischen Abermillionen zu finden, so wirkte das Unterfangen hier kaum aussichtsreicher als irgendwo sonst in der Metropole.
"Wir patroullieren", sagte Dooru Ninja. "Para ist sich sicher, dass sie in der Gegend ist. Aber außer Schola weiß keine von uns genau, wie sie aussieht. Wir müssen uns auf unser Gefühl verlassen. Wenn sie wirklich wie wir ist, werden wir sie erkennen."
Dooru Schola hatte versucht, aus der Erinnerung an den kurzen Moment, in welchem sie das Mädchen gesehen hatte, ein Phantombild anzufertigen. Zwar hatte die Polizei auch eins erstellt, doch war dieses bei weitem zu ungenau, um hilfreich zu sein. Immerhin war so kaum zu befürchten, dass man den Dooru zuvorkommen würde. Die Wohnung des Mädchens hatten sie verlassen vorgefunden. Es gab dort nichts zu finden. So vergingen ein paar ergebnislose Tage.
"Selbst wenn sie sich versteckt hält, wird sie essen müssen", meinte Ninja, als sie mit Schola und Para in einem Schnellrestaurant saß, wo sie sich beratschlagten. Unter den vielen jungen Leuten um sie herum fielen sie nicht weiter auf.
"Wenn sie jemanden hier kennt, bei dem sie womöglich untergekommen ist, bräuchte sie eigentlich nicht einmal nach draußen zu gehen", sagte Schola.
Para schüttelte den Kopf.
"Ihre Aura ist die einer Einzelgängerin, furchtbar einsam. Ich glaube nicht, dass sie jemanden hat, dem sie vertrauen würde."
"Und von woher vibriert ihre Aura gerade am stärksten?", fragte Schola, ohne ihren Sarkasmus zu verbergen.
"Ich habe euch doch erklärt, dass ich das nicht sagen kann. Im Augenblick kann ich sie glasklar wahrnehmen, aber das fühlt sich mehr wie eine sphärische Präsenz an, ohne bestimmte Richtung. Du glaubst mir natürlich nicht!"
"Was weiß ich! Wenn der Meister damit zufrieden ist, dann muss ich es wohl auch sein. Nur scheinen uns deine Talente im Moment nicht weiterzuhelfen!"
"Und wenn ich ihre Signatur nicht aufgespürt hätte, würden wir jetzt vielleicht in Honolulu suchen!"
"Das wäre möglicherweise genauso aussichtsreich!"
"Na, schlechte Stimmung?"
Es war nicht Ninja, von der die Frage kam, sondern Dooru Obscura. Sie war wie aus dem Nichts neben ihnen aufgetaucht, was aber keine der drei anderen wirklich überraschte. Obscura verdankte ihren Titel der Fähigkeit, sich unbemerkt zu machen. Zuweilen erreichte ihre Meisterschaft die Grenze der Unsichtbarkeit.
"Ich habe mir gestern Abend die Kollegin der Kleinen, die wir suchen, vorgenommen", erklärte sie bester Laune. "Die aus dem Convenience-Store. Und davor den Geschäftsführer. Ein feiger Hund, sage ich euch. Ich habe ihm ein bisschen zugesetzt, aber er schien wirklich so gut wie nichts über das Mädchen zu wissen. Offenbar war sie da nicht so ganz offiziell beschäftigt."
"Und die Kollegin?", fragte Ninja.
"Ein herzensgutes Mädchen. Ich habe versucht, sie auszufragen, aber sie wollte sich auf nichts einlassen. Ich habe dann kurz ihr Handy geklaut und bin mal alle gespeicherten Nummern durchgegangen. Da war auch eine mit dem angeblichen Namen unseres Zielobjekts, aber offenbar ist der Anschluss tot. Vielleicht hat sie ihre Rechnungen nicht bezahlt."
"Es scheint so", schloss Ninja, "dass sie genauso verborgen lebt, wie wir es tun."
Der Meister hegte keinen Zweifel daran, dass ihre Gleichartigkeit sie zusammenbringen würde. "Sie wird zu euch kommen", hatte er gesagt. "Es war kein Zufall, dass ihre und Scholas Wege sich gekreuzt haben."
Noch aber hatte sich seine Prophezeihung nicht erfüllt.
Ein paar Tage danach betrat Schola einen der vielen winzigen Lebensmittelläden, wie man sie in den Einkaufspassagen Kichijojis fand. Sie war hungrig. Den ganzen Tag hatte sie kaum etwas anderes gemacht als umherzulaufen und zu beobachten.
Sie nahm sich etwas von einem der Regale und stand in der Schlange an. Der Laden war voll und eng, und es dauerte einige Zeit, bis sie an die Kasse vorgerückt war. Als Schola den Tresen fast erreicht hatte und schon einmal ihren Geldbeutel zog, überkam sie plötzlich ein seltsames Gefühl. Es musste etwas mit der Person hinter ihr zu tun haben. Wie beiläufig, aber sehr vorsichtig, drehte sie sich ein Stückchen um, und ein verstohlener Blick aus dem Augenwinkel bestätigte ihre Ahnung: Es war das Mädchen!
Sie hatte sie also entdeckt, in einem Moment, in dem sie es am wenigsten erwartet hätte. Dooru Para hatte recht gehabt. Dummerweise schien das Wiedererkennen auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Das Mädchen zuckte kurz zusammen und starrte Schola an. Was tun? In der Enge gab es kein Vor oder Zurück, das war gut. Schola tat so, als bekäme sie einen Anruf, und kramte ihr Handy aus der Tasche. Dabei stellte sie sich extra ein bisschen umständlich an und aktivierte nebenbei Dooru Ninjas Nummer.
"Mama? Ja, ach, ich bin noch in Kichijoji. Ich kaufe gerade ein paar Reisbällchen ... Ich weiß, aber bis zum Abendessen dauert es ja noch ..."
Während sie all das sagte, drehte sie sich so, dass das Ohr, an welchem sie ihr Handy hielt, dem Mädchen zugewandt war. Gleichzeitig fischte sie mit der anderen Hand in einer Jackentasche herum.
"Der nächste Kunde, bitte sehr!", rief eine der Kassiererinnen.
Die Aufforderung galt ihr. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass das Mädchen sie immer noch anstarrte und wohl merkte, dass sie etwas vorhatte. Ja, sieh mich an, dachte Schola. Sie hatte die Fotografierfunktion ihres Handys aktiviert. Ein Tastendruck reichte.
Das Mädchen begriff und stürzte nach vorn, stieß Schola dabei zur Seite gegen den Kassentisch und boxte sich durch die Leute, die im Eingangsbereich herumstanden. Es gab empörte Reaktionen, aber niemand hielt sie auf. In Nullkommanichts hatte sie den Laden verlassen.
"Halt!", rief eine Kassiererin.
Schola warf einen Geldschein auf den Kassentisch und rannte ihrerseits los. Hinter sich hörte sie noch eine andere Kassiererin "Ihr Wechselgeld!" rufen. Das Mädchen rannte im Getümmel durch die Passage, schon in einiger Entfernung, und Schola versuchte aufzuschließen, aber das Mädchen war schnell und verschwand schließlich in der Menge.
Schola hielt an. Sie hatte noch immer Dooru Ninja am Handy, und knapp erklärte sie ihr, was passiert war.
"Ich konnte ein Foto von ihr machen. Ich schicke es euch allen sofort rüber. Sie ist in die Sunroad-Passage eingebogen, nordwärts. Außerdem habe ich es geschafft, ihr einen Sender anzuheften. Wir können sie also mit unseren Handys orten. Ich hoffe, sie hat es nicht gemerkt."
Was sie an der Kasse mit der freien Hand aus ihrer Tasche geholt hatte, war ein Miniatursender, welcher mittels einer winzigen Klettfläche haftete. Er sah kaum anders aus als ein fingernagelgroßes Stück rauhen Klebebands. Als die Fliehende sich an ihr vorbeigedrängt hatte, war es Schola gelungen, den Sender auf den Rücken ihrer Jacke zu kleben.
Sie beendete den Anruf, schickte das Foto an die anderen und überprüfte das Signal des Senders. Die Sache schien zu funktionieren. Auf dem Straßenplan der Navigationsanzeige bewegte sich ein roter Punkt. Das Mädchen schien im Zickzack durch die Gassen zu laufen und ab und zu anzuhalten. Ihr Kurs wirkte etwas unentschlossen, aber letztlich schien sie sich in einem weiten Bogen in Richtung Bahnhof zu bewegen. Immer Ausschau haltend, steuerte Schola dasselbe Ziel an. Sie entdeckte ein paar der anderen, ebenfalls dorthin unterwegs. Allmählich wurde es dunkel.
Eine Textnachricht kam aufs Handy, eine Anweisung von Dooru Ninja: "Neko: Chuo, Nezumi: Inokashira." Chuo und Inokashira waren die Namen der beiden Bahnlinien, die in Kichijoji zusammenkamen, Neko und Nezumi die Bezeichnungen der zwei Untereinheiten der Dooru. Schola gehörte zur Nezumigumi. Die Navigationsanzeige war im Bahnhofsbereich nicht sehr präzise, aber es sah so aus, als liefe der Punkt auf die Inokashira-Linie zu.
Ihre komplette Einheit fand sich schließlich an der Barriere vor den Bahnsteigen zusammen, durch die man nur mit einem Fahrausweis kam. Der gesamte Bereich war nicht allzu groß und gut zu überschauen, doch gab es von der Verfolgten keine Spur. Das Navigationssignal stand still. Es dauerte ein paar Minuten, bis es sich wieder bewegte, und kurz darauf kam eine weitere Textnachricht: "Gesuchte im Express Richtung Mitaka. Zwei von uns mit im Zug. Alle zur Chuo!"
Dort auf dem Bahnsteig angekommen, trafen sie auf die vier verbliebenen Mitglieder der Nekogumi. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als auf den nächsten Zug zu warten. Auf der schnurgeraden Bahnstrecke, ganz in der Ferne, konnten sie die immer undeutlicher werdenden Rücklichter des Expresszuges sehen, der in Richtung Westen raste, in den Sonnenuntergang über den endlosen Ausläufern der Stadt.
Die Hatz war eröffnet. Anhand des Fotos hatten Dooru Obscura und Dooru Chamaelea das Mädchen zwar erkannt, als es in den Zug stieg, und waren in letzter Sekunde selbst aufgesprungen, doch erwies es sich als vollkommen unmöglich, in den total verstopften Waggons zur Zeit der Rush Hour an sie heranzukommen. Und während die beiden weiterfuhren, stellte sich heraus, dass die Verfolgte den Zug schon an der nächsten Station unbemerkt wieder verlassen hatte. Das Navigationssignal bewegte sich wenig später recht schnell auf einer der Hauptverkehrsstraßen stadtauswärts. Es sah ganz so aus, als hatte das Mädchen ein Taxi genommen.
Sie fuhr weit. Später wurde der Signalpunkt langsamer, verweilte hin und wieder, setzte sich erneut in Bewegung, folgte Bahnlinien und Straßen. Die Dooru setzten ihrem Jagdwild zwei Tage lang nach, teilten sich, schwärmten in verschiedene Richtungen aus, versuchten es zu umkreisen. Irgendwann blieb der Punkt ganz stehen, und ihre Befürchtungen bestätigten sich.
"War wohl nur eine Frage der Zeit", murmelte Dooru Ninja, nachdem sie den kleinen Sender mitten in der Nacht neben einem Sammelbehälter für Plastikflaschen gefunden hatte, welcher vor einem Convenience-Store stand.
"Die scheinen da drinnen ein Problem zu haben", sagte Obscura. "Ich geh mal rein, ein bisschen horchen."
Durch die Fensterfront des Ladens sah man, wie drinnen zwei Polizisten mit einem Angestellten sprachen.
Obscura war bald wieder zurück.
"Da hat jemand kräftig eingekauft und vergessen zu bezahlen", berichtete sie. "Sieht sehr nach unserer Kleinen aus, was meint ihr?"
"Sie wird kein Geld mehr haben", sagte Schola und hatte eine Idee. "Wenn das Mädchen von jetzt an stehlen muss, um essen zu können, dann kommt es bestimmt zu weiteren Vorfällen dieser Art. Ich müsste das Polizeinetzwerk beobachten, um zu sehen, ob sie auf diese Weise ihre Spuren hinterlässt. Am besten ginge das natürlich vom Tempel aus."
"Ja, das könnte hilfreich sein", stimmte Ninja zu. "Wer weiß, was sie noch alles ausfressen wird."
"Außerdem können wir weiter auf Paras Intuition vertrauen", fügte Schola hinzu und warf ihrer Kameradin einen schüchternen Blick zu. "Kichijoji war ja ein Volltreffer."
Para nickte und lächelte entrückt, wie es ihre Art war. Vielleicht bedeutete es, dass sie Scholas Versöhnungsgeste annahm.
"Herrlich, diese Harmonie!", ulkte Obscura. "Ansonsten gibt es vermutlich keine weiteren Strategievorschläge? Ich jedenfalls hätte im Augenblick keinen."
Dooru Lingua jedoch, Meisterin vieler Sprachen, brachte einen neuen Verbündeten ins Spiel.
"Warum sollte Takachan uns nicht bei der Suche helfen?", meinte sie. "Es wäre eine fantastische Aufgabe für ihn."
Lingua war Falknerin, und Takachan hieß der junge Falke, den sie abgerichtet hatte. Noch nie war er an einer Mission der Dooru beteiligt gewesen.
"Wie soll er wissen, wonach er zu suchen hat?", wandte Ninja ein.
"Ich bin sicher, dass Para so mit ihm kommunizieren kann, dass er die Lebensspur des Mädchens in sich aufnimmt", sagte Lingua.
"Wunderbar ...", säuselte Para und wirkte dabei, als wäre sie nur noch körperlich anwesend.
Schola war anzusehen, dass sie ihre Bedenken nur mit größter Mühe für sich zu behalten vermochte. Aber auch Ninja war skeptisch.
"Ich werde deinen und auch Scholas Vorschlag mit dem Meister besprechen", sagte sie und suchte eine Stelle auf, wo sie ungestört über ihr Handy sprechen konnte.
Der Meister zeigte sich mit allem einverstanden, und so kehrte Schola noch in derselben Nacht in den Tempel zurück, während Lingua aufbrach, ihren Falken zu holen.
Der Tag brach an, als ein paar der Dooru um den Bastkäfig herumstanden, den Lingua abgestellt hatte und den sie nun öffnete. Sie hielt einen Arm hinein, und als sie ihn wieder hervorzog, kam ihr gefiederter Freund darauf zum Vorschein. Mit der freien Hand entfernte sie die Kopfbedeckung, welche ihm während des Transports die Sicht genommen hatte.
Takachan grüßte sein Publikum mit einem Flügelschlag, zeigte sich sonst aber nicht weiter beeindruckt.
"Er hat gut geschlafen", versicherte Lingua mit Blick auf Ninja, die keine Miene verzog.
Lingua gab Takachan einen Bissen zu essen und flüsterte ihm etwas zu. Ihre besondere Spezialisierung im Zirkel der 4A waren fremde Sprachen, von denen sie so viele beherrschte und dazulernte, dass keine ihrer Schwestern deren Zahl zu schätzen vermochte. Sie war die Einzige unter ihnen, die mit dem Meister in dessen Heimatsprache sprechen konnte, besser womöglich als er selbst, wie er zuweilen scherzte. Unter den Dooru ging das Gerücht, dass Lingua selbst Tiere verstand.
Para trat vor und musterte den Falken mit einer für ihre Verhältnisse konzentrierten Fasziniertheit. Das Tier erwiderte ihre Aufmerksamkeit und schlug nochmals mit den Flügeln. Etwas verschmolz im Feld zwischen dem wachsamen Blick des Raubvogels, scharf und unfehlbar, und den riesenhaften Augen Paras, hinter deren matter Schwärze die letzten Gründe des Universums zu liegen schienen. Zuletzt hatte ihr Gesicht von seinem Kopf kaum noch einen Fingerbreit Abstand.
"Soll ich dir etwas zeigen?", fragte Para.
Ein Laut kam zur Antwort, und Lingua nickte glücklich.
"Er ist einverstanden!"
Para legte ihre Stupsnase an Takachans Schnabel und schloss die Augen. Der Falke begann, auf eigentümliche Weise zu schnurren. Was nun passierte, ließ sich nicht mehr beobachten.
Obscura, die ebenfalls zuschaute, griente von einem Ohr zum anderen.
"Was amüsiert dich jetzt schon wieder?", fragte Ninja. "Und weshalb bist du immer noch hier und nicht mit den anderen ausgeschwärmt?"
"'tschuldigung, aber ich wollte mir das nicht entgehen lassen. Und ich habe gerade versucht, mir Scholas Gesicht vorzustellen, wenn die das jetzt sehen würde ..."
Takachan krächzte.
"Er hat alles verstanden", erklärte Lingua stolz. "Er wird sie erkennen, wenn er sie sieht."
"Na, okie-dokie", meinte Obscura und war verschwunden, bevor Ninja sie ein zweites Mal an ihre Pflichten erinnern konnte.
Bald darauf erhob sich Takachan in die kalten Lüfte des Wintertags. Die Suche ging weiter.
Die Verfolgung des Mädchens führte die Dooru weit von der Mitte Tokyos weg. Die Umgebung wurde gleichförmiger. Großflächig verstreut gab es viele kleinere Stadtzentren inmitten riesiger Wohngebiete, Labyrinthe, in denen sich kaum eine Ecke von der anderen unterschied. Para fühlte teils die Nähe, teils die Richtung der Fliehenden. Schola überprüfte akribisch die Polizeiberichte der Bezirke, in denen sie sie vermuteten. Einmal schien das Mädchen in ein Haus eingestiegen zu sein, dessen Besitzer übers Wochenende weggefahren waren, hatte dort gegessen, geschlafen und Geld gestohlen. Wer wusste, wo sie die übrigen Nächte in dieser kalten Jahreszeit verbrachte?
"Ich merke deutlich, wie sie immer schwächer wird", sagte Para.
"Ja, und wie Schola meldet, gibt es Berichte von Diebstählen, die ziemlich unvorsichtig und verzweifelt wirkten", sagte Ninja.
"Sie ist auf jeden Fall in der Gegend, da bin ich sicher."
Sie suchten, streiften, beobachteten. Sie teilten sich, kamen wieder zusammen, arbeiteten in Schichten. Sie übernachteten in kleinen Hotels, von denen die Stadt übersäht war. Und einmal am Tag kehrte eine von ihnen für kurze Zeit in den Tempel zurück, um den Meister und die Assistentin zu sehen. Takachan avancierte in dieser Zeit zum Liebling des Zirkels. Regelmäßig kam er angeflogen, ließ sich von Lingua füttern und genoss die Aufmerksamkeit, die ihm allseits entgegengebracht wurde. Doch auch seinen wachsamen Augen war das Mädchen noch immer unentdeckt geblieben.
"Sagt euch der Name Masaaki Tanabe noch etwas?", fragte Dooru Chamaelea, als sie von einem Erkundungsgang zurückkehrte.
"Igitt wie pfui, du meinst diesen Oberperversen?", fragte Obscura.
"Genau den! Die Polizei sucht ihn ja schon seit Ewigkeiten, und wisst ihr was: Ich habe ihn entdeckt! Schleicht hier in der Gegend herum. Trägt eine vollkommen groteske Perücke und einen Bart, aber mich kann er nicht täuschen. Ich habe auch herausgefunden, wo er sich versteckt hält. Wie wär's, Ninja? Wir machen der Polizei eine schöne Lieferung. Wäre ein Kinderspiel und würde nicht viel Zeit in Anspruch nehmen."
Sie alle wussten, dass Dooru Chamaelea von keiner Verkleidung zu täuschen war. So, wie Obscura die Unsichtbarkeit beherrschte, meisterte Chamaelea die Verwandlung. Es war ihre besondere Gabe, wie jede der Dooru eine besaß, und hier kam ihr niemand gleich. "Wer sie einmal gesehen hat, erkennt sie nie mehr wieder", so hatte es einmal der Meister formuliert. Aber eben der blieb unerbittlich.
"Negativ", sagte Ninja knapp und steckte ihr Handy ein. "Er sagt, ihn interessieren jetzt keine pädophilen Vergewaltiger. Er will nur das Mädchen haben."
Finster fügte sie hinzu: "Er wird ungeduldig."
Das Blatt sollte sich bald wenden. Ninja selbst ertappte, zur gleichen Zeit wie ein Kaufhausdetektiv, die Gesuchte auf frischer Tat. Die aber entwischte noch einmal, floh über Dächer und Leitern.
"Sie sieht übel aus, aber sie ist immer noch beachtlich schnell", berichtete Ninja den anderen.
Es gelang den Dooru, sie einzukreisen, immer enger. Sie versteckte sich, brach aus, verschwand wieder. So ging es bis in die Nacht. Die Straßen wurden leerer, die Umgebung stiller. In der Ferne rauschten noch ab und zu Züge, hin und wieder kamen Autos oder Motorräder vorbei. Sonst tat sich nichts.
Plötzlich aber gab es von irgendwoher Zeichen eines Tumults. Rauhe, polternde Stimmen, dann ein Schrei. Drei der Dooru befanden sich in der Nähe und stürmten hin. Eine Gruppe ruppiger, junger Männer hatte das Mädchen in der Zange. Die Dooru kamen zu Hilfe, es gab einen kurzen Kampf, das Mädchen entkam wieder.
Ninja schüttelte den Kopf. "Ihre Fähigkeiten, in dem Zustand ... Aber sie kann nicht mehr weit kommen!"
Sie spähten überall, hinter Mauern und auf Dächern. Irgendwann hielt Para inne und sagte: "Ich glaube, sie hat das Bewusstsein verloren."
Weiter ging es. Als die Morgendämmerung anbrach, hörten sie von nicht weit her ein paar Raben krächzen, dann einen gellenden Schrei, und dann noch einen, schrill und abgebrochen, nicht der eines Menschen. Sie eilten in die Richtung, die sie vermuteten, erschöpft und müde von der durchwachten Nacht, von der langen Jagd, die nun endlich zu Ende sein sollte.
Hoch über ihnen erklang der Ruf eines Falken.
III.
Sie war auf der Flucht nach Nirgendwo. Einmal noch kehrte sie in ihre Behausung zurück, raffte ein paar Habseligkeiten zusammen und steckte ihr letztes Geld ein. Dann ging sie, für immer. Sie versteckte sich und mied jeden. Nachts blieb sie an Orten, an denen sie nicht sein durfte.
Man war hinter ihr her, aber es waren nicht allein die Schergen des Staates, denen zu entgehen einfach gewesen wäre. Sie hatte einen Fehler gemacht, an jenem Tag, als sie die Beherrschung verloren hatte. Man hatte sie entdeckt, so als habe man sie schon lange gesucht, so als hätte sie sich preisgegeben. Man wusste, dass sie existierte. Als was hatte sie sich preisgegeben?
Sie spürte, wie die Hyänen hinter ihr her waren. Einmal rannte sie ihnen fast in die Arme. Wieder war es dieselbe, diejenige, die sie zuerst erkannt hatte. Auch wenn sie knapp entkam, hatte die Jagd endgültig begonnen. Selbst die Zeit war ihr Feind. Ihr letztes Geld war bald ausgegeben. Sie musste stehlen, wenn sie nicht sterben wollte, und noch wollte sie nicht, obwohl sie nicht wusste, wofür sie lebte.
Sie schlief unregelmäßig, manchmal unter Dächern, manchmal im Schmutz unter freiem Himmel, und wenn sie schlief, dann beherrschte einer ihre Träume, einer, den sie gar nicht kannte. Er sprach zu ihr, leise, wie aus endloser Ferne: "Räche für mich! Töte für mich!" Sie wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, doch hätte sie ihn gern getötet, diesen Usurpator des letzten Reiches, in dem sie allein herrschte. Diesen Fremden.
Ihre Kraft schwand von Tag zu Tag. Es war kalt, und die Witterung der Hyänen lag stechend in der Luft. Doch während die Kraft ihres Körpers zu versagen begann, entdeckte sie andere Kräfte, Instinkte, von denen sie nie etwas geahnt hatte. Ein ums andere Mal gelang es ihr, die Schatten zu überlisten und in die Irre zu locken, wieder und wieder. Sie war ihnen voraus, stets um einen Schritt, und noch einen, Schritte, die immer taumelnder und dumpfer wurden.
Der Moment kam, da sie einen falschen Schritt machte. Gerade war sie noch ihren Jägern entgangen, welche sie anderen abspenstig machten, die sie gern zur Beute gehabt hätten, und sie floh durchs Dunkel der Nacht, benommen vor Müdigkeit und aufgepeitscht vor Angst. Ein Tritt ins Leere, und sie stürzte, etliche Meter. Wie eine Katze drehte sie sich im Fall, nie war ihr derartiges gelungen, doch war sie zu erschöpft, um sich am Boden abzufangen. Der Schmerz, als irgendetwas ihr Bein durchbohrte, nahm ihr die Sinne. So blieb sie liegen.
Als sie zu sich kam, graute der Morgen. Sie wollte aufstehen, aber der Schmerz war so unerträglich, dass ihr fast noch einmal schwarz vor Augen wurde. Über sich sah sie die Brücke, von der sie gefallen war, um sich herum Abfall. Die großen schwarzen Raben, sie waren überall in dieser Stadt, auch hier. Wieder fühlte sie die Nähe der Hyänen. Sie kamen, denn sie witterten Verwesung. Wie die Raben. Einer von ihnen war riesig. Er spürte ihre Hilflosigkeit und musterte fasziniert die Wunde an ihrem Bein. Vor und zurück hüpfte er, spreizte triumphierend die Flügel und klapperte mit seinem grausigen Schnabel. Dann stieß er zu, und mit unfehlbarer Genauigkeit hackte er in das aufgerissene Fleisch ihrer Wunde.
Sie schrie, wie sie noch nie geschrien hatte. Ihre allerletzte Kraft wollte sie zusammennehmen, um sich davonzumachen, aber es gelang ihr nicht. Der Rabe schlug noch einmal zu. Sie meinte, wahnsinnig zu werden, doch nicht allein des Schmerzes wegen. Warum nur war die Welt so?
Wieder spürte sie ihn, wie bei der Alten im Laden, den sengenden, brutalen Hass, und wo alle physische Energie versiegt war, blieb dieser eine Quell unerschöpflich. Im Unrat neben ihr lag eine Karte aus Plastik. Gewiss wäre ihre Kante scharf genug. Sie griff nach ihr, denn sie wusste, was sie tun musste, wie im Laden, als sie den Streich geführt hatte, der sie an diesen Ort gebracht hatte.
Selbst für die wilde Kreatur war ihr Hieb zu schnell. Der Kopf mit dem klaffenden Schnabel rollte übers Pflaster, die Flügel schlugen noch ein paar Mal, während das Blut aus dem verstümmelten Rumpf spritzte. Rache ...
Schwärze umfing sie, allmählich nur, doch unnachgiebig. Wie viele Raben würden nach diesem kommen? Siege waren kurzlebig, am Ende vergebens. Sie war erledigt.
Doch das Heer der Raben, es stieb in Panik auseinander, als ein Schrei erklang, der von einer Kreatur kam, majestätischer als sie. Ein Wind starker Flügel strich über das fieberwarme Gesicht des Mädchens, und ein Jäger, der sie nicht zur Beute wollte, nahm schützend Platz auf ihrem Leib, den sie kaum mehr fühlte.
Das letzte, was sie wahrnahm, bevor ihr das Bewusstsein schwand, waren Schatten, die sich näherten.
Die Hyänen. Sie hatten gewonnen ...
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